Autos und Chauffeure
Als zu Beginn des Jahrhunderts die Autos aufkamen, gab es noch keine
Tankstellen. So etwas wie eine Fahrerlaubnis war vorerst noch unbekannt. Der
Fahrer von Dr. Schwabach beschaffte den Treibstoff für die Autos entweder
in Berlin oder in der Apotheke in Trebbin. Schließlich legte man sich
hinter dem Marstall in einem kleinen Keller einen Benzinvorrat an. Dort
befanden sich größere und kleinere Fässer. Das Benzin wurde in
Eimern zum Auto gebracht und mit einem Trichter eingefüllt.
Immer, wenn so ein Auto ins Dorf kam, liefen die Leute zusammen, und die Kinder
rannten hinterher. Chauffeur war, da es noch keine Piloten gab, neben dem
Lokführer Traumberuf fast aller Jungen.
Der spätere Chauffeur des Schloßherren, das Waisenkind Georg
Hagedorn, war ursprünglich Pferdejunge, dann Kutscher und
schließlich Chauffeur geworden. Georg Hagedorn hatte, obwohl er mit den
Pferden nichts mehr zu tun hatte, sein rundes Zimmer im Turm des Marstall
behalten.
Der Umstand, daß er stark dem Alkohol zusprach, war seinem Beruf nicht
abträglich. Er war unverzichtbar und fuhr seinen Herrn zu jeder Tages- und
Nachtzeit zu allen nur denkbaren Zielen; er hatte immer einsatzbereit
zu sein.
Da Dr. von Schwabach auf den guten Chauffeur, der – so erinnert sich die
Altkerzendorferin Eise Gola – so etwas wie eine Institution war, nicht
verzichten wollte, schickte er ihn nicht irgendwohin, sondern nach Kudowa in
Schlesien zur Entziehungskur. Sie schlug vermutlich fehl, denn es kam
später zu einem Unfall, an dessen Folgen Hagedorn verstarb; Schwabach
blieb unverletzt.
Auch ein weiterer Fahrer des Bankiers kam bei einer Fahrt nach Hamburg ums
Leben. Das Auto war mit einer Kuh kollidiert und umgestürzt.
Die vakante Stelle nahm der Bruder des Verunglückten, Adolf Stocker, ein.
Der aus Stuttgart stammende Mann heiratete die Kerzendorferin Else Pasewald und
ließ sich dort nieder. Auch sein Sohn war von Autos fasziniert.
Kerzendorf und die Eisenbahn
Die Errichtung der Berlin-Anhaltischen-Eisenbahn zwischen 1838 und 1841 brachte
nicht nur für die gesamte Region, sondern insbesondere auch für
Kerzendorf grundlegende Veränderungen mit sich. Die Bahn – der
nächste Bahnhof befand sich im nahen Ludwigsfelde – stieß
für das bis dahin fast vergessene Dorf irgendwo im Märkischen ein Tor
auf, das den Blick auf die große Welt freigab und dem Horizont der
Kerzendorfer neue Dimensionen verlieh. Wenn Berlin bis dahin in fast
unerreichbarer Ferne gelegen hatte, so konnte man die Residenzstadt seit
Anlegung des Haltepunktes Ludwigsfelde im Jahre 1843 in weniger als einer
Stunde Fahrzeit erreichen – sofern der Zug mit den anfangs offenen
Waggons nicht im Schnee steckenblieb, der Lokomotive nicht das Holz oder das
Wasser ausging oder keine störrische Schafherde die Gleise blockierte.
Die Bahn brachte aber auch völlig neue Arbeitsmöglichkeiten mit sich.
Fortan waren auch Kerzendorfer als Eisenbahner im Stellwerk in Ludwigsfelde
oder Thyrow, vor allem aber als Schrankenwärter tätig.
An fast jedem Weg, der über die Gleise führte, befand sich
ursprünglich ein kleines Häuschen für den Schrankenwärter,
der in unendlicher Geduld und Einsamkeit wartete, bis wieder einmal ein Zug
kam, um dann die Schranken herunterzudrehen. Solch ein
Schrankenwärterhäuschen befand sich auch in der Nähe des
Ludwigsfelder Friedhofes, wo einstmals der Weg von Kerzendorf nach Ludwigsfelde
die Gleise überquerte.
Der Schwabachsche Privatweg zwischen Kerzendorf und Siethen, der vor allem als
Spazier- und Reitweg, aber auch von herrschaftlichen Kutschen und Ackerwagen
benutzt wurde, führte über die Bahnlinie. An dieser Stelle hatte der
Guts- und Schloßherr auf eigene Kosten ein
Schrankenwärterhäuschen mit Schranke errichten lassen. Die beiden im
Wechsel tätigen Schrankenwärter wurden nicht von der Bahn, sondern
von Schwabach bezahlt. Der Dienst der Bahnwärter war stets sehr lang und
der Lohn nicht sehr hoch, deshalb wurde nebenher etwas Landwirtschaft betrieben
und Kleinvieh gehalten.
Für Dr. von Schwabach bot die Eisenbahn die günstige Gelegenheit,
binnen kurzer Zeit nach Berlin zu gelangen. Für ihn war stets ein Abteil
reserviert. Wenn er sich verspätete, wartete der Zug. Bis zur Dominanz des
Automobiles wurde der Bankier mit der Kutsche zur Bahn gebracht bzw. abgeholt.
Die Straßen waren seit etwa 1880 befestigt, sprich gepflastert.
Seit der Errichtung des Ludwigsfelder Bahnhofs hatte Ludwigsfelde für
Kerzendorf eine immer größere Bedeutung erlangt. In Kerzendorf
lebten seit der Schaffung der Eisenbahn stets einige Eisenbahnerfamilien.
Kerzendorf im April / Mai 1945
Kerzendorf ist im Frühjahr 1945 von Flüchtlingen aus den
östlichen Teilen Deutschlands, die im Krieg aufs Spiel gesetzt worden
waren und verloren gegangen sind, aber auch von Ausgebombten aus dem nahen
Berlin und umherirrenden Zwangsarbeitern unterschiedlichster Nationalität
geradezu überflutet worden. Letztere, zumeist bewaffnet, strebten, von
ihren Bewachern alleingelassen, heimwärts. Wo sie nichts zu essen bekamen,
nahmen sie es sich mit Gewalt. Auch sie, die unter der NS-Herrschaft furchtbar
gelitten hatten und völlig ausgehungert waren, wollten überleben.
Die Einwohnerzahl war von rund 300 auf mehr als 1000 angestiegen. Dem
Näherrücken der sowjetischen Streitkräfte sah man mit gemischten
Gefühlen zwischen panischer Angst und freudiger Erwartung entgegen.
Während bei den Deutschen die nackte Angst dominierte und mehrere Familien
die Flucht ergriffen, herrschte bei den Zwangsarbeitern eher fröhliche
Stimmung.
Lally Horstmann hielt dazu fest: "Eine Woge der Panik ergriff das Dorf.
Viele der Bewohner machten sich mit Roß und Wagen auf die Flucht. Aber es
war vergeblich, denn Berlin war längst umzingelt, der Weg in den Westen
versperrt."
Während die sowjetischen Soldaten am 22. April 1945 auf der einen Seite in
den Ort eindrangen, zogen sich die SS-Soldaten, die das Dorf ursprünglich
verteidigen wollten, auf der anderen Seite des Ortes zurück.
Ernst Schädlich tat als mutiger Bürger das in dieser Situation einzig
Richtige: Er kletterte auf den Kirchturm und hißte die weiße Fahne.
Unnötiges Blutvergießen konnte so verhindert werden.
Um das Ausmaß dieses auch für Kerzendorf historischen Tages zu
veranschaulichen, sei hier nur kurz erwähnt, daß der Einmarsch der
Siegertruppen mit endlosen Plünderungen, Vergewaltigungen und anderen
Gewalttaten als schreckliche Begleiterscheinungen von aufgeputschtem
Völkerhaß und der Brutalität des Krieges einherging. Die Moral
war auf der Strecke geblieben, der Unterschied zwischen Mein und Dein verlor an
Bedeutung; es ging nur noch ums nackte Überleben.
Als die Russen Kerzendorf besetzten, mußten mehrere Häuser
vorübergehend geräumt werden.
Als ein Bauer den Unwillen eines Sowjetsoldaten erregte, wurde er mit einem
Feuerstoß aus einer MPi im Kuhstall erschossen, wo man ihn zwischen den
Kühen liegen ließ.
Da kein Sarg vorhanden war, wurde er in einer massiven eichenen Truhe beerdigt.
Ein Menschenleben galt in jenen Tagen, in denen die Menschen millionenfach
starben, nichts. Der Förster schnitt seiner Frau und seinem Kind die
Pulsadern auf und erhängte sich an einem Baum. Frau und Kind konnten in
letzter Minute gerettet werden. Weitere Einwohner von Kerzendorf nahmen sich
angesichts des Zusammenbruchs des Hitler-Reiches das Leben. Mehrere Personen
wurden von der Roten Armee verhaftet und ins Internierungslager gebracht.
Einige kehrten erst um 1950 zurück.
Aber nicht nur Menschen, sondern auch unschätzbares nationales Kulturgut
wurde in jenen Tagen vernichtet. Der einmalige Park von Kerzendorf wurde von
den Ketten der Panzer gnadenlos zermalmt. Den Rest bekam die Anlage, als die
russischen Soldaten dort 200 bis 300 Pferde stationierten und den
umzäunten Park zum Auslauf bzw. zur Weide machten.
Plastiken und Statuen dienten als Zielscheiben für siegestrunkene Soldaten.
Dr. Horstmann und seine Frau Leonie hatten den Untergang ihres Besitztums, das
ruhmlose Ende des Deutschen Reiches und den von entsetzlichen Exzessen
begleiteten Einmarsch der Siegermacht wie einen endlosen Alptraum wahrgenommen.
Den Einmarsch der russischen Truppen in Kerzendorf schildert Lally Horstmann,
geborene von Schwabach, in ihrem Buch "Keine Zeit für Tränen" ergreifend.
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