Es war im Herbst 1961. Das erste Szenenstudium nach den Semesterferien war bei
den meisten Studenten gut gelaufen. Die Dozenten waren zufrieden. Nach der
Auswertung hatten die Studenten noch ein wenig gefeiert, hingen nun aber an
diesem Nachmittag wie eine Traube vor dem schwarzen Brett, auf dem die
Besetzung für das nächste Szenenstudium bekannt gegeben wurde.
Welches Stück, welche Rolle, bei welchem Dozenten und mit welchem Partner.
Das ist der archimedische Punkt und sonst nichts. Und die Musen? Auch sie sind
gespannt, möchten die Reaktion der Studenten erleben und schweben unter
Umgehung der schönen alten Treppe mit gedrechseltem Geländer in das
obere Rondell.
Ein spitzer Schrei: »›Meine‹ Rolle!« Erschrocken
wenden sich die Studenten um.
»Ich hab sie, meine Rolle, die heilige Johanna!« Natürlich
Rosemarie. »Ich hab sie mir so gewünscht.« Ein kleines
Feuerwerk könnte jetzt abgebrannt werden. Hans steht direkt neben ihr.
Aber seine Miene ist in Essig getaucht. Der Kuß auf seine Wange bleibt
außen vor. Da wirft sie noch einmal einen Blick auf den Aushang. Ach,
daran hat sie in ihrer Freude nicht gedacht. Er hat sich den ›Prinzen
von Homburg‹ gewünscht und ist mit dem ›Dauphin‹ bei
Shaw besetzt. Tiefe Enttäuschung. Aber auch die Musen sind
enttäuscht. So eine herrliche Rolle, rundum komödiantisch,
tragikomisch.
Aber so ist das immer, das Lockere, das scheinbar ganz nebenbei den tiefen
Widerspruch zeigt, wird nicht erkannt. Den großen Helden spielen, den
Prinzen von Homburg. So ein Held war der ja nun auch nicht, meint Thalia, oder
doch? Rosemarie ist diplomatisch. Erst mal weg von hier, draußen kann
man in Ruhe reden. Sie hakt sich bei ihrem Freund ein und zieht ihn weg von
der Tafel.
Im Park streift die Abendsonne noch einmal die braungoldenen Gipfel der
Kastanien. Auf dem Weg raschelt das welke Laub unter der Füßen. Der
Wind springt über die Wiese, duckt sich in die Sträucher und nimmt
neuen Anlauf, reißt die kleinen gelben Blätter der Büsche mit
sich fort. Es riecht nach Herbst. Hans atmet tief. Allmählich könnte
er seinen Zorn ausblasen. Schließlich sind sechs Wochen gemeinsame Probe,
noch dazu bei Frau Fink, fast ein Fünfer im Lotto. Jeden Tag drei Stunden
zusammen Szenenstudium, denkt Rosemarie, sagt es aber nicht. Denn in dieser
Krone fehlt natürlich ein Steinchen, der ersehnte Prinz von Homburg, den
er sich ebenso sehr gewünscht hat wie sie die Johanna.
Obwohl die Musen, die den beiden unbemerkt gefolgt sind, das herbstliche Wetter
nicht gerade herzerwärmend empfinden, bleiben sie ganz in der Nähe
und erleben, was ja nie schadet, den Alltag ihrer Schützlinge hautnah.
Rosemarie fragt ihren Liebsten, ganz nebenbei, ob er denn überhaupt ein
Textbuch der ›Heiligen Johanna‹ zu Hause hat. Wenn nicht, er
könnte ihr Reclam-Heft haben. Sie hat noch die Gesammelten Werke von Shaw,
die sie sich zum Geburtstag gewünscht hatte, zu Hause. Sie kann ihm das
Heft holen, wenn er bis zu ihrem Haus mitkommt. Statt einer Antwort legt Hans
wie zufällig seine rechte Hand auf ihre rechte Schulter und als sie auf
der Treppe zu Rosemaries Wohnung sind, schnürt er stillschweigend seine
Schuhe auf und nimmt sie in die Hand. Es könnte ja sein, sie lesen sich
fest und vergessen die Zeit. Rosemaries Wirtin, Frau Geßler, gehört
leider zu den ›Um-Zehn-Uhr-ist-Besuchszeit-Ende‹-Wirtinnen. Und
wenn sie weiß, daß Hans mitgekommen ist, erscheint sie bestimmt
punkt 22 Uhr in Rosemaries Zimmer, um »Gute Nacht« zu sagen.
Die Musen wissen auch das. Nichts Menschliches ist ihnen fremd, den
Göttern, und in gewisser Weise gehören sie ja dazu. Also bleiben oder
entschwinden? Sie sind nicht neugierig. Aber wissen möchten sie aus rein
fachlichen Gründen schon, ob dieser Bursche, dem sie eine ganze Portion
Talent gegeben haben, sich für die Rolle des Dauphin begeistern
läßt.
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